Tinnitusriskant: Berliner Philharmoniker und Rattle spielen Simon Holt und Bruckner

Mal wieder ein Anlauf von Simon Rattle Richtung Bruckner, er scheint es ernst zu meinen. Nächste Saison gehts weiter.

johann_wilhelm-preyer-gemaelde-pflaumeDoch zuerst gibts bei den Berliner Philharmonikern diesmal Surcos des 1958 geborenen Briten Simon Holt. Wie viel bleibt von einem sechsminütigen neuen Stück hängen, wenn danach noch Bruckners Achte folgt? Erstaunlich viel. Emmanuel Pahuds erregte Piccoloflöte über liegenden Streichertönen, die höher und höher steigen und, als sie ganz oben sind, schmerzhaft abbrechen – das wäre ein guter Schluss. Ist aber gut, dass es noch weitergeht, erstaunlich viele Klang- und Ausdruckssphären in so einem kurzen Stück, eindrückliches Harfentrio. Hell im Klang, düster in der Stimmung: licht depressiv.

Mit dem degoutanten Etikett Appetithappen (Simon Rattle) scheint das unterbewertet, man hätte es gern gleich nochmal gehört. „Tinnitusriskant: Berliner Philharmoniker und Rattle spielen Simon Holt und Bruckner“ weiterlesen

Tinnitusriskant: Berliner Philharmoniker und Rattle spielen Simon Holt und Bruckner

Samtsichtig: Wiener Philharmoniker, Blomstedt, Kit Armstrong spielen Beethoven & Bruckner

Beethoven_HornemannBesser als in die Scharoun-Philharmonie passen die Wiener Philharmoniker, wenn sie Berlin besuchen, doch ins Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Sie werden ja wohl nachsichtig sein gegenüber den akustischen und bildhauerisch-malerischen Mängeln im Katzengoldenen Saal unseres realklassizistischen Musikvereins alla piefka.

Gänzlich unentschuldbar ist nur das Rumpeln und Pumpeln, Knistern und Knuspern des Berliner Publikums zu Beginn des Largo von Beethovens 3. Klavierkonzert c-Moll op. 37. Aber weder der Dirigent Herbert Blomstedt noch der Solist Kit Armstrong lassen sich etwas anmerken: Gelassenheit des hohen Alters und der knackfrischen Jugend. „Samtsichtig: Wiener Philharmoniker, Blomstedt, Kit Armstrong spielen Beethoven & Bruckner“ weiterlesen

Samtsichtig: Wiener Philharmoniker, Blomstedt, Kit Armstrong spielen Beethoven & Bruckner

Kleines Dankeschön an den großen Stanisław Skrowaczewski

Von einem schönen Kammermusik-Abend nach Hause gekommen, liest man traurig, dass der große Dirigent Stanisław Skrowaczewski verstorben ist.

Traurig? Gewiss. Aber mehr noch dankbar. Dafür, den 93jährigen noch vor einem knappen Jahr erlebt haben zu dürfen, als der beim Rundfunk-Sinfonieorchester Bruckners Achte dirigierte. In klarer Monumentalität. Im Stehen. Ohne einen Blick in die Partitur, die für ihn bereitlag – er schlug sie zu, bevor er zum ersten Ton anschlug.

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Kleines Dankeschön an den großen Stanisław Skrowaczewski

22.1.2017 – Überraschungsgastlich: Abschlusskonzert des Ultraschall-Festivals

Ein Irrtum ist zu korrigieren. Viele Musikhistoriker und Konzertführer behaupten, Anton Bruckner hätte keine Schüler und direkten Nachfolger gehabt. Das ist falsch: Bruckner hat einen Schüler und direkten Nachfolger. Er heißt Heinz und lebt in Niederbayern.

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Überraschungsgast bei Ultraschall

Zum Abschluss des Ultraschall-Festivals für neue Musik, das sich dieses Jahr dem Thema „Stimme“ widmete, spielt das Deutsche Symphonie-Orchester im rbb-Sendesaal die 5. Sinfonie „Jetzt und in der Stunde des Todes“  des 1946 geborenen Heinz Winbeck. Winbeck spricht mit der Stimme Bruckners, nicht des Vokalkomponisten, sondern des Symphonikers. Sein Werk nach Motiven insbesondere des Finales der IX. Symphonie (das es ja nicht gibt) umkreist Bruckner nicht indirekt und von ganz weit weg, wie es etwa Aribert Reimann in Nahe Ferne mit Beethoven tut, hat auch wenig mit Hans Zenders komponierten Interpretationen zu tun. Ursprünglich sollte Winbecks Werk In Bruckners Kopf heißen, das hätte schon gepasst.

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22.1.2017 – Überraschungsgastlich: Abschlusskonzert des Ultraschall-Festivals

16.12.2016 – Geschmackssachlich: Berliner Philharmoniker, Thielemann, Buchbinder mit Beethoven und Bruckner

Den dunkelwarmen Klang, den Metzmachers überragende Bruckner-Vierte beim DSO verweigerte, schenken Christian Thielemann und die Berliner Philharmoniker bei Anton Bruckners Symphonie Nr. 7 E-Dur im Übermaß. Drei Abende lang, hier geht’s um den zweiten.

Bei Metzmacher klang Bruckner ganz anders, als man ihn sich vorstellte, und das war gut so – aber auch Geschmackssache, ein älteres Ehepaar ging nach dem ersten Satz. Bei Thielemann klingt Bruckner, wie man ihn sich vorstellt, und das ist auch gut so, grandios, glorios. Aber ebenfalls Geschmackssache.

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16.12.2016 – Geschmackssachlich: Berliner Philharmoniker, Thielemann, Buchbinder mit Beethoven und Bruckner

14.12.2016 – Apollonysisch: DSO und Metzmacher spielen Strawinsky und Bruckners Vierte

Sogenannte apollinische Kunst ist ja oft langweiliger als sogenannte dionysische, weil mit Apollon nicht der krasse Marsyashäuter oder der hinterhältige Bogenschütze auf Trojas Mauern gemeint ist, sondern irgend so ein diatonischer Musenizer. Aber bei Igor Strawinsky ist Neoklassizismus kein Euphemismus für gepflegte Langeweile. Was machen diese falschen Töne in der Dur- und Terzenseligkeit von Apollon musagète (1928)?

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14.12.2016 – Apollonysisch: DSO und Metzmacher spielen Strawinsky und Bruckners Vierte

10.12.2016 – Schallend, verhallend: Berliner Philharmoniker, Thielemann, Kremer mit Gubaidulina und Bruckner. Rattle und Hannigan mit Grisey

Das interessante Programm, das die Berliner Philharmoniker unter Christian Thielemann (mehr dazu unten) dreimal gespielt haben, wird am Samstagabend durch das anschließende Late-Night-Konzert mit Simon Rattle, Barbara Hannigan und einem 15köpfigen Ensemble aus Philharmonikern und Gästen außergewöhnlich kontrapunktiert: Vier ergreifende Meditationen über den Tod sind Quatre chantes pour franchir le seuil, die der französische Komponist Gérard Grisey (1946-98) kurz vor seinem Tod komponierte. Ein leises Reiben auf der Großen Trommel ist vor und zwischen den Stücken zu hören, oder eben kaum zu hören, und da meint der (Nicht-)Hörer sein eigenes Atmen zu vernehmen, fassungslos vor der unbegreifbaren Grenze.

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27.4.2016 – Atemlos blühend: Andris Nelsons mit Wagner und Bruckner bei den Berliner Philharmonikern

Zu den geheimen Hintergründen der letzten Chefdirigentenwahl der Berliner Philharmoniker gehört, dass die Frau des Konzertgängers gegen Andris Nelsons frühzeitig ihr Veto eingelegt hat: Sie kann einfach seinen Dirigierstil nicht ansehen. Das viele Rudern, Kreisen, Beugen erinnert sie zu sehr an die enervierende Akrobatik ihrer Kinder beim Abendessen. Aber die Augen schließen geht auch nicht: Einerseits aus instinktiver mütterlicher Sorge, dass der große Junge Andris gleich ein Saftglas oder Papas Weinflasche vom Tisch wischen könnte. Andererseits weil sie mit geschlossenen Augen immer einschläft; selbst bei Bruckner.

Was sehr schade wäre. Und merkwürdig, denn Nelsons ist der Wachhalter schlechthin. Emotionaler Erwecker oder an einen Fußballtrainer erinnerndsolche Beschreibungen, obwohl anscheinend positiv gemeint, hat Nelsons aber auch nicht verdient. Intensiver kann man nicht dirigieren. In der Uraufführung 1877 soll Anton Bruckners 3. Symphonie d-Moll (auch dank Bruckners Dirigier“kunst“) ja so übel getönt haben, dass nicht nur das Publikum, sondern auch einige Wiener Philharmoniker vorzeitig den Konzertsaal verließen. Dabei war ihre Renitenz ja zumindest mitschuldig an dem Desaster. Da konnte es Bruckner auch nicht trösten, dass der unerreichbare, weltberühmte und erhabene Meister der Dicht- und Tonkunst  ihm in Anerkennung dieser Symphonie eine Prise Bayreuther Schnupftabak angeboten hatte; und einige Bier, so dass Bruckner am nächsten Tag nicht mehr wusste, welche Symphonie er Wagner widmen durfte, die zweite oder die dritte.

Hätte Bruckner doch Hingabe und Sound der Berliner Philharmoniker erleben dürfen!  Gespielt wird, wie üblich, die 3. Fassung der Symphonie von 1889. (Es wäre ein Traum, wenn das Orchester einmal in einer Saison die verschiedenen Versionen einer Brucknersymphonie spielte.) Nelsons setzt auf Ekstase statt roter Fäden, was sehr beeindruckend klingt. Der ununterbrochene Höchstexpressionsmodus kann aber auf Dauer auch ins Leere laufen, die Intensität des Moments geht auf Kosten der großen Bögen; insgesamt eine sehr laute Aufführung. Und wenn Nelsons sogar mit den Fingern die Flötentriller in die Luft zeichnet, fragt man sich, ob das aus einem Instrumentalisten wie Emanuel Pahud wirklich etwas herauskitzeln kann. Schnürt es einem Interpreten nicht die Luft ab? Man ist halt kein Musiker. Als Showdance fürs Publikum kann man Nelsons‘ Dirigat auch nicht abtun, dafür ist das Orchester offenhörlich zu begeistert bei der Sache. Gut sowieso.

Das Publikum fühlt sich erst recht nicht bevormundet, sondern ist enthusiasmiert. Überwältigend ist dieser Bruckner, zweifellos. Aber auch überzeugend?

Parsifal passt besser zu Bruckner als jede andere Musik Wagners: Im Vorspiel zum 1. Akt erinnern die mischklangfreien Register und die weihevollen Generalpausen frappierend an die archaisch-futuristische Symphonik des Linzer Halbgotts bzw. Halbtrottels (Mahler). Nelsons präsentiert das gefühlt langsamste Parsifal-Intro seit Wilhelm Furtwängler. Die Besucher der Bayreuther Festspiele, wo Nelsons im Sommer den neuen Parsifal leiten wird, können sich auf mindestens 30 Gratis-Extra-Minuten einstellen. Im Karfreitagszauber bewährt sich Albrecht Mayers Radfahrerlunge beim brillanten Oboensolo. Instinktsicher antizipierte das Publikum diese exorbitante Leistung bereits vor dem Konzert, als der allein aufs Podium kommende Mayer singulären Applaus erhielt.

Der Konzertgänger kommt sich bei solchen Wagner-Exzerpten aber immer wie ein Schummler vor, der den langen Weg zum musikdramatischen Blütenmeer schnöde abgekürzt hat. Kein Wunder, wenn man da ins Hecheln kommt.

Nachtrag: Herr Schlatz weist zurecht darauf hin, dass Knappertsbusch der größte Parsifal-Trödler war, wie hier zu hören.

Ausführliche Kritik bei Bachtrack.

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27.4.2016 – Atemlos blühend: Andris Nelsons mit Wagner und Bruckner bei den Berliner Philharmonikern

17.4.2016 – Klar monumental: Stanisław Skrowaczewski beim RSB mit Bruckners Achter

Der älteste praktizierende Dirigent weltweitStanisław Skrowaczewski hat die persönliche Bekanntschaft mit Anton Bruckner nur knapp verpasst und könnte der Vater von Daniel Barenboim oder Marek Janowski sein. Alles praeter propter. Um exakt zu sein: Er erblickte das Licht der Welt im damals polnischen Lwiw/Lemberg genau 23 Tage vor der ersten funklautlichen Regung des Klangkörpers, der später zum Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) werden sollte.

Wie es sich gehört, gilt Skrowaczewski als Bruckner-Experte, ab 80 scheint Dirigenten eine über den Notentext hinausgehende Kenntnis dieser Musik zugänglich, die Jüngeren, sich noch unsterblich Wähnenden verschlossen ist. Und ab 90? Dass Skrowaczewski, der dieses Jahr 93 wird, gut zwei Jahre nach seiner imposanten Aufführung der Vierten mit Anton Bruckners Sinfonie Nr. 8 c-Moll noch einmal nach Berlin in die Philharmonie zurückkehrt, ist ein Geschenk.

Die für ihn bereitliegende Partitur der Achten (Haas-Fassung) berührt Skrowaczewski ein einziges Mal – vor Konzertbeginn, um sie zu schließen. Kein Stuhl, kein Hocker auf dem Dirigentenpodest für die kommenden 80 Minuten. Allein davon wäre man beeindruckt, selbst wenn das Konzert so lala wäre. Aber davon kann keine Rede sein, Skrowaczewskis Bruckner ist enorm: alles andere als ausgewogen, oft durchaus laut mit schwerem Blech (man sitzt gut in Block D, zwanzig Meter vom Orchester entfernt) – Skrowaczewski wird sich nicht mehr von 70jährigen Grünschnäbeln erklären lassen, dass eine Brucknersinfonie im Grunde eine spezielle Form von Kammermusik sei. Er betont die Härten der Partitur, etwa den Kontrast von brutaler Wucht und zartestem Piano im Scherzo oder das infernalische Vorschlaggewitter im Finale.

Aber bei aller Massivität keine Spur von Undurchsichtigkeit: Das polyphone Stimmengeflecht ist deutlich und plastisch, Musik von klarer Monumentalität und monumentaler Klarheit. Die sich aber auch immer wieder verflüssigt, denn die Solisten genießen bei Skrowaczewski große Freiheit und sind durch die Reihe wunderbar: Horn (Martin Kühner), Oboe (Gabriele Bastian), Flöte (Silke Uhlig), Klarinette (Michael Kern) et al., nicht zuletzt die Pauke (Jakob Eschenburg), die nach den gleißenden Trompetenschreien am zerfallenden, verlöschenden Schluss des ersten Satzes Allegro moderato so beklemmend sanft wispert. Der Konzertgänger ist wieder überrascht, wie kurz dieser erste Satz ist.

Im Scherzo leuchtet dem Konzertgänger wieder ein, warum er anno dunnemal beim ersten Hören dieser Symphonie das Trio bereits für den langsamen Satz hielt. Da kannte er ja das wahre Adagio noch nicht, den Satz der Sätze, für den die Frau des Konzertgängers erst auf die Welt gekommen zu sein meint. Unter feierlich langsam versteht Skrowaczewski wirklich langsam, es ist ein Musikstrom, in dem der Konzertgänger seinerseits der Sonatensatzwelt abhanden kommt; doch nicht schleppend, die Übergänge grandios, dito die Solovioline von Rainer Wolters. So wie die einzelnen glänzen, so glanzvoll eins ist das Ganze, ein in seiner Zerrissenheit außerordentlich organischer Orchesterklang.

Nach der großen Themenvereinigung und dem a tempo gespielten Schlussknall beobachtet man zitternd Skrowaczewskis heiklen Weg vom Podest zur Treppe. Stehende Ovationen des Publikums, ein Gefühl überwältigender Dankbarkeit. In der Saison 2017/18 ist ein weiteres Konzert geplant. Gott befohlen!

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17.4.2016 – Klar monumental: Stanisław Skrowaczewski beim RSB mit Bruckners Achter

10.12.2015 – Betend: Manfred Honeck und das DSO spielen nicht nur Mozart

Man zögert, es ein Konzert zu nennen. Jedenfalls ist es das katholischste Konzert, das der Konzertgänger je erlebt hat. Und das ist positiv gemeint. Obwohl der Konzertgänger Protestant ist.

Und es ist ein Konzert von himmlischer Länge. (Dabei behauptet die Frau des Konzertgängers immer: „Wir Katholiken fassen uns kurz. Bei euch Protestanten dauert alles ewig.“) Der Österreicher Manfred Honeck, Chefdirigent in Pittsburgh, kombiniert nicht nur das Requiem mit anderen geistlichen Werken von Mozart, gregorianischen Gesängen, Glockengeläut sowie Bibel-, Gedicht- und Brieflesungen. Diesem kolossalen, durchaus überambitionierten Programm geht eine erste Konzerthälfte mit drei Werken voraus, die sich sehr unterschiedlich, doch alle aus gläubiger Sicht mit dem Tod auseinandersetzen.

Am Anfang steht aber der Kampf mit irdischen Tücken. Die sieben Plagen des Konzertgängers sind bekanntlich: Handys, Flüstern, Armbanduhrpiepsen, Programmheftblättern, Füßescharren, Bonbonpapierrascheln und, grässlichste von allen, Husten. Obwohl das Deutsche Symphonie-Orchester jetzt nach Philharmonikervorbild vor Konzertbeginn bittet to refrain from coughing, wird Anton Bruckners Ave Maria (1861) schmählich zerhustet. Der Rundfunkchor, der diese siebenstimmige, im zartesten Pianissimo beginnende A-cappella-Perle den Säuen vor die Hufe wirft, singt klar disponiert und berückend schön, auch für die Röchelsünder von Block A bis K: ora pro nobis peccatoribus.

Das Finale von Francis Poulencs Oper Dialogues des Carmélites (1956) ist einer der überwältigendsten Schlüsse der Operngeschichte: 16 Nonnen schreiten während des Französischen Revolutionsterrors zur Hinrichtung, 16mal saust die Guillotine nieder, Stimme um Stimme dünnt der Chor sich aus – bis zum Schluss der Mezzosopran von Blanche de la Force hinzutritt, die sich im letzten Moment entscheidet, mit ihren Schwestern für den Glauben in den Tod zu gehen. Bei dieser konzertanten Aufführung sieht man den Hammer im Schlagwerk niedersausen, die ausscheidenden Sängerinnen drehen sich zur Seite; die kurzfristig eingesprungene Sophia Harmsen überzeugt als Blanche. Natürlich wirken diese effektvollen Schlussminuten einer Zweieinhalbstunden-Oper hier wie ein Gefühlsquickie, offenbar auch verwirrend für unvorbereitete Besucher, die verzweifelt im Programmheft blättern: Was mag es mit diesem Knallen und Sängerinnenwegdrehen auf sich haben? Aber die ungeheure Kraft dieser Musik wird spürbar. Hoffentlich bald wieder auf einer Berliner Opernbühne!

Der 1959 geborene Schotte James MacMillan, Komponist und Laienbruder des Dominikanerordens, hat eine ziemlich bekiffte Vision des Johannes von Patmos (Offenbarung 12) als Woman of the Apocalypse vertont, eine Mischung aus Richard Strauss und Olivier Messiaen: sehr bildhafte Symphonische Dichtung inklusive Tritonuskitsch und frivoler Neigung zum Dur-Akkord. Ein fast halbstündiger, trotzdem kurzweiliger Klangrausch, der aber auch etwas vorbeirauscht. Mit seiner konzertierenden Anlage gibt er dem Orchester gruppenweise Gelegenheit zum Brillieren, die das DSO dankbar ergreift; besonders schön die Kombination von Flöte, Celesta, Glockenspiel und Tuba, kurios die wiederkehrenden Kuhglocken-Bubbles.

Doch all dies ist nur die Vorbereitung für das Hauptprogramm, das Manfred Honeck rund um Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem d-Moll KV 626, man muss sagen: komponiert hat.

Die Aufführung beschränkt sich auf die fertiggestellten Teile des Requiems, lässt also die Süßmayr-Teile weg und bettet dafür das Werk auf vielfache Weise ein: mit Mozarts instrumentaler Maurerischer Trauermusik c-Moll KV 477 (1785) und dem Laudate Dominum aus KV 339 (1780), in dem Sunhae Im mit ihrem Sopran bezaubert, den der Konzertgänger nicht anders beschreiben mag als: rein, keusch, ja marienhaft unbefleckt. Mit gregorianischen Gesängen von außerhalb des Saals platzierten Choristen, die so schwer lokalisierbar klingen, dass sie tatsächlich wie aus dem Jenseits klingen. Mit Zitaten aus Mozarts Briefen (der Tod als bester Freund des Menschen) und zwei Gedichten von Nelly Sachs, die das Grauen von Auschwitz reflektieren – eine Dimension des Totengedenkens, der ein Konzertabend natürlich nie gerecht werden kann; aber die Assoziationsräume aufreißt, die das Konzert weit über eine gepflegte Klassikerwiedergabe hinaus öffnen. Der Schauspieler Ulrich Noethen liest diese Texte, anfangs erstaunlich schwer zu verstehen (was auch am Mikrofon liegen mag, das es in der Philharmonie für einen guten Sprecher nicht bräuchte). Konkret aufs Requiem beziehen sich die gelesenen Abschnitte aus der Offenbarung, die die folgende Sequenz und das Offertorium auch für glaubensferne Hörer an ihre biblische Grundlage zurückbinden.

Das Singen, Beten, Flehen, Schreien, Jubeln des Menschen bei Mozart kann hingegen jeder hören. Manfred Honeck und das DSO, das zwar nicht vibratofrei, aber doch mit schlankem, an keiner Stelle erdrückendem Streicherton spielt, erreichen größte Intensität nie durch Lautstärke, sondern durch hohe Präzision und rhythmische Schärfung, etwa im Rex tremendae, das hier nichts von höfischem Tanz hat, wie man es sonst manchmal hört. Äußerst beeindruckend die agilen Posaunen im Kyrie. Der Rundfunkchor Berlin übertrifft (wen sonst?) sich selbst, etwa wenn im Confutatis aus dem Höllenchor der Engelschor emporsteigt. Die Schönheit des Hostias und Lacrimosa sind kaum zu ertragen. Die vorzüglichen Solisten Sunhae Im, Sophia Harmsen, Benjamin Bruns und Tareq Nazmi stehen hinter dem Orchester beim Chor, was zu einem organischen Gesamtklang statt Mozarthochglanz beiträgt.

Anstelle des Süßmayr-Schlusses endet das Requiem heute mit einer unerhört zarten Darbietung des Ave verum corpus KV 618. Selbstverständlich weint der Konzertgänger jetzt. Schon längst. Noch mehr möchte er beten. Aber es ist nicht nötig; so wie Jesus Christus für uns gestorben ist, so betet Mozart für uns in dieser Musik.

Die drei verschwindend leisen Glockenschläge am Schluss sind aber vielleicht doch too much.

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10.12.2015 – Betend: Manfred Honeck und das DSO spielen nicht nur Mozart